Ein Plädoyer für Ethik, Gerechtigkeit und Kohärenz
Mich hat die Geschichte schon immer fasziniert. Dabei fand ich weniger interessant wann, welcher Herrscher Großes vollbracht hat. Mich interessierte eher, wie einfache Menschen, welche in die falsche Zeit und am falschen Ort geboren wurden, gelebt und mit ihrem harten Schicksal umgegangen sind. Man denke beispielhaft an Menschen, welche Anfang letztes Jahrhunderts in Europa geboren wurden, alles erlebt haben (2 Weltkriege, Wirtschaftskrise, Faschismus, Nationalsozialismus und Holocaust). Rein deshalb dürften wir uns heute nicht beklagen.
Dieses Geschichtsinteresses führte mich dazu das Buch „Der Fürst“ von Nicolò Machiavelli zu lesen. Während dieser Lektüre wuchs in mir der Eindruck, dass Machiavellis Ratschläge auch heute noch in den verschiedenen Machtzentralen von einer nicht allzu-kleinen Gefolgschaft angewendet werden. Dieser Ratgeber, in der Renaissance geschrieben, muss in seinen Gedankengängen natürlich in die heutige Zeit übertragen werden. Niemand würde heute „von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Fall Navalny ist Beispielhaft noch in Erinnerung“, die physische Beseitigung eines politischen Gegners in Betracht ziehen. Die Frage, ob Machiavellis Thesen für eine effektive Politik unerlässlich oder Grundlage einer unmoralischen Machtpolitik sind, wird heute noch heiß diskutiert. Gegenüber dem Ideal (oder der Utopie?), dass je ethischer der Politiker handelt, desto blühender ist das von ihm regierte Gemeinwesen, beschreibt Machiavelli die Politik der Wirklichkeit abseits jeder Moralphilosophie. Diesbezüglich ist mein persönliches Resümee leider eindeutig. In der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Politik finden sich genügend Beispiele von Machtkämpfen von kleineren und größeren „Fürsten“. Besonders traurig ist es, wenn bereits junge Politiker, welche eigentlich unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind, auch die Gelegenheit nützen die eigenen Taschen zu füllen anstatt sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Natürlich gibt es auch Idealisten unter den Politikern, auf allen Ebenen. Meine Frage ist, ob diese Politiker auch Idealisten bleiben und ausschließlich für das Gemeinwohl arbeiten, sobald sie an die Macht kommen.
Noch spannender als die Verhaltensmuster der Politiker, ist für mich aber die Frage, ob in den Machtzentralen der Unternehmen und Organisationen auch noch unbewusste Anhänger der Thesen von Machiavelli am Ruder sind. Von meinen Überlegungen schließe ich die Klein- und Mittelstandunternehmen aus, denn da besteht meist eine intensive, fast schon familiäre Beziehung zwischen Mitarbeitern und Eigentümer. Ich spreche also von großen Unternehmen oder Organisationen, deren Spitzenpositionen auch mit einer gewissen Macht (Geld, Status, Einflussmöglichkeiten usw) verbunden sind.
In meinen bisherigen Blogeinträgen rate ich Unternehmen, sich neue Lösungsansätze anzueignen, um in den aktuell schwierigen Rahmenbedingungen weiterhin erfolgreich zu bleiben. So braucht es:
- eine intern und extern sinnstiftende Vision (Purpose), welche als einziger Fix-Stern in dieser sich so schnell verändernden Welt bestand hat.
- Selbstorganisierte und autonome Teams, denn bei den aktuell komplexen Rahmenbedingungen schränken hierarchische Strukturen mit funktionalen Silos den notwendigen Innovationsdrang ein. Der Mitarbeiter wünscht sich vermehrt, aktiv seine Ideen einbringen zu können.
Diese Vorschlägen basieren auf Grundwerten wie Gleichberechtigung, Vertrauen, Menschlichkeit, Konsensentscheidungen und Kooperation.
1) Laut Realpolitiker Machiavelli bewirken gute Absichten (Purpose) nicht automatisch gute Resultate.
- Beispielhaft hierfür ist Google‘s Purpose: „ die Informationen der Welt zu organisieren und zugänglich zu machen“. Im Verhaltenskodex steht „Don’t be evil“ (frei übersetzt „Sei nicht böse“). Alphabet, Googles Mutterkonzern, hat das Motto „Do the right thing“ (frei übersetzt „Tu das richtige“). Google wird der Steuerflucht, Manipulation der Suchergebnisse, Diskriminierung, Maßnahmen gegen die Organisation von Beschäftigten, Unterstützung von Klimawandel-Leugnern und der politischen Einflussnahmen beschuldigt.
- Facebooks Mission ist es “den Menschen zu ermöglichen, sich auszutauschen und die Welt offener und vernetzter zu machen“. Facebook steht vor allem wegen gravierender Verstöße gegen das Datenschutzrecht in der Kritik von Eltern, Verbraucherschützern und Politikern. Zuerst der Skandal um Cambridge Analytica im Jahre 2018. Dann zeigte Frances Haugen 2021, eine ehemalige Softwareingenieurin und Managerin bei Facebook, die potenziellen Gefahren der Algorithmen für Heranwachsenden auf und beschuldigte Facebook nichts zu unternehmen um diese zu schützen. Zudem wird Facebook wegen Steuerflucht, Verbreitung von Falschmeldungen, bezahlte PR-Aktionen gegen Kritiker und der politischen Einflussnahmen beschuldigt.
Machiavelli würde sagen: „…es ist nachteilig stets redlich zu sein, aber redlich und treu zu scheinen ist sehr nützlich, denn jeder sieht was du zu sein scheinst und nur wenige merken wie du wirklich beschaffen bist, solange die letzteren wenige bleiben ist deine Macht nicht gefährdet, denn die Masse hält es immer mit dem Schein und dem Ausgang“
Manager fordern gerne ihre Mitarbeiter dazu auf, die „Konzernmission“ mit vollem Einsatz zu leben und verbergen gleichzeitig ihre wahren Aktivitäten unter einer dicken Schicht aus zuckersüßem Geschwätz.
Eine weitere eklatante Divergenz zwischen „Schein“ und „Sein“, bekannt unter dem Begriff „Greenwashing“, sehen wir aufgrund der Klimakrise in vielen Hochglanz Broschüren von internationalen Konzernen.
2) Bezüglich Selbstorganisierte und autonome Teams würde Machiavelli einschränken, dass „..sie nur solange funktioniert, solange der persönliche Eigennutz der Mitarbeiter höher oder ihre aktuelle „kleine Macht-Position“ nicht in Gefahr ist..“. Es gibt zahlreiche Bücher über das Thema „Change Management“ im Unternehmen, welche auch diese Probleme aufzeigen und verschiedene Lösungsansätze vorschlagen.
Weitere mögliche Ratschläge von Machiavelli an Manager sind:
- „..wer die Ursache wird, dass ein anderer mächtig wird, geht selbst zugrunde..“
Machiavelli rät somit von jeder Mitarbeiterentwicklung ab, welcher der eigenen Position gefährlich werden könnte. - „..es ist besser unliebsame Dinge auf andere abzuwälzen und die angenehmen sich selber vorzubehalten..“
- „…derjenige der in allen Dingen moralisch gut handelt wird unter jenen welche nicht nach diesen Prinzipien handeln untergehen…“
Diese These könnte eine Erklärung sein, wieso der Dieselskandal nicht nur auf einen Autokonzern beschränkt geblieben ist. Praktisch alle haben getrickst, um die Verkaufszahlen auf hohem Niveau zu halten.
Zusammenfassend würde Machiavelli erklären, dass „.. es Situationen gibt, in denen man nicht gleichermaßen sein Vaterland und sein Seelenheil lieben kann..“.
Diesbezüglich sagte mir einmal ein einflussreicher Manager während einer Diskussion über die Lobbyarbeit in der Politik „..auch ich würde einen Pakt mit dem Teufel eingehen, wenn es um die Verteidigung meiner Machtposition ginge..“.
Ohne nachzudenken antwortete ich: „Nein, würde ich nicht“.
Aber kann ich mir da wirklich so sicher sein? Ich hatte keine Macht-Position zu verteidigen. Es ist einfach, Idealist zu sein ohne Macht. So zum Beispiel ist es im politischen Kontext auch einfach, Idealist zu sein, wenn man in der Opposition ist.
Wie ein Mensch auf die Herausforderungen der Umwelt reagiert, hängt von seiner Werte-Grundhaltung ab. Verschiedene Lebensformen, Situationen, Gesellschaften oder Systeme fordern unterschiedliche Wertehaltungen. In Kriegszeiten sind andere Werte und Verhaltensweisen zum überleben notwendig als zum Beispiel während einer allgemeinen Wohlstandsperiode.
Als erschreckendes Mahnmal finde ich diesbezüglich die aktive Mittäterschaft am Holocaust von tausenden sogenannter „normaler Bürger“ während des Naziregimes.
Don Beck und Christopher Cowan haben 1996, basierend auf dem Graves Werte Modell des US-amerikanischen Psychologieprofessor Clare. W. Graves (*1914, †1986), das Spiral Dynamics Wertemodell entwickelt (https://spiraldynamics.org/ , https://de.wikipedia.org/wiki/Spiral_Dynamics). Dieses Wertemodell besagt, dass Menschen im Lauf ihres individuellen Lebens, wie auch im Lauf der Menschheitsgeschichte 8 unterschiedliche Formen des Denkens und Handelns durchlaufen können. Sie beschreiben das Lebensgefühl, die Weltanschauung, die Motivationen von Menschen. Diese Theorie enthält viele Parallelen zur Bedürfnispyramide von Maslow, wonach die Menschen immer zuerst Basisbedürfnisse befriedigen (essen, trinken, schlafen usw) bevor sie sich höherer Bedürfnisse zuwenden (sich selbst realisieren). In der Theorie von Spiral Dynamics werden diese 8 Stufen der Bedürfnisbefriedigung durch Farben dargestellt.
Einige dieser Werte-Grundhaltungen können wir auch in Organisationen wiederfinden.
Rote Organisationen zeichnen sich durch eine „Ellenbogen-Mentalität“ aus. Es gibt starke Kämpfe um die Rangordnung und Machtverteilung, ohne Rücksicht auf die anderen. Ich denke zahlreiche Thesen von Machiavelli finden in dieser Art von Organisation Anwendung. Man schätzt die Anzahl dieser Unternehmen auf ungefähr 15%.
In blau geprägten Organisationen (geschätzte 30%) ist Ordnung und Struktur oberstes Prinzip, dementsprechend sind sie sehr bürokratisch. Die Regeln sind einzuhalten ohne sie zu hinterfragen. Gehorsam und Disziplin werden eingefordert, geben aber auch Sicherheit und Stabilität.
Orange Organisationen (geschätzte 30%) sind geprägt von leistungsorientierten Hierarchien. Mit Zielvereinbarungsprozessen und Provisionsregelungen wird auch der interne Wettbewerb gefördert. Statussymbole sind sehr wichtig. Auch in diesen Organisationen finden wir Anhänger der Thesen von Machiavelli. Nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ wird fast alles wird der Zielerreichung untergeordnet.
Erst ab den grünen Unternehmen (geschätzte 15%) lösen sich hierarchische Strukturen zugunsten flacher Hierarchien, basierend auf Vertrauen, Konsensentscheidungen und Kooperation, auf.
Wenn jeder einzelne Mensch und die Menschheitsgeschichte insgesamt wirklich diese 8 unterschiedlichen Formen des Denkens und Handelns durchlaufen muss, wobei jede Ebene die Werte der vorhergehenden Ebene beinhaltet, und zu jeder Zeit aufgrund von eintretenden Krisen (Pandemie, Krieg, Klimakrise, Wirtschaftskrise) man wieder in die vorhergehenden Denkmuster und auf eine tiefere Ebene laut Maslow zurückfallen kann, versteht man auch, wieso bestimmte typische Denkmuster der Renaissance heute immer noch Anhänger haben.
Zuversichtlich stimmt mich, dass es keine unrealistische Utopie ist, wenn ich von Denkmustern und Organisationsformen spreche, welche als Grundwerte die Gemeinschaft, das Vertrauen, die Zusammenarbeit, Gleichberechtigung und Menschlichkeit haben. Es gibt sie wirklich die sogenannten grünen Unternehmen mit diesen Grundwerten.
So zum Beispiel die Morning Star Company, ein 1970 gegründetes Agrar- und Lebensmittelverarbeitungsunternehmen mit Sitz in Woodland, Kalifornien. Das Unternehmen verarbeitet jährlich 1 Million Tonnen Tomaten, beschäftigt 400 Mitarbeiter, erzielt einen Umsatz von 700 Millionen Dollar. Vom Eigentümer/Gründer Chris Rufer wurde das „Selbstmanagement“ eingeführt, basierend auf den vollständigen Verzicht eines aufsichtsführenden Managements. Die Mitarbeiter werden ermutigt, eigenständig Innovationen zu entwickeln, ihre Aufgaben selbst zu definieren und sogar Entscheidungen über den Kauf von Geräten in Absprache mit Experten zu treffen. Auch die Vergütung basiert auf Bewertungen durch Kollegen.
Weiteres Beispiel ist die Firma Zappos (https://www.zapposinsights.com/about/holacracy)
Heute sehen wir zwar noch erst eine verschwindend kleine Minderheit von grünen Organisationen und die Mehrheit der Organisationen ist leider noch nicht bereit, die Grundwerte der Gemeinschaft, das Vertrauen, die Zusammenarbeit, Gleichberechtigung und Menschlichkeit konsequent zu leben, aber das Ziel ist klar vor Augen.
Es ist noch ein langer Weg, packen wir es an.